Fahrt nach Rechtland
Ein Jäger, dachte ich, als der grün Uniformierte das Zugabteil betrat. Der Dreistern an seiner Uniform wies ihn jedoch als Grenzberater aus. „Ihre Reisedokumente bitte – Die erste Reise nach Rechtland?“ fragte er höflich. Ja. „Dann überreiche ich Ihnen unser Begrüßungsblatt, lesen Sie es bitte – gute Fahrt!“
Ich las: „Willkommen in Rechtland! Die folgenden Hinweise führen Sie in einen angenehmen Aufenthalt. Unser Land ist das erste energieautarke Land in Europa. Wir entnehmen alle nötige Energie dem Wind, dem Sonnenlicht und Pflanzen, die hier wachsen. Bei uns gibt es keine Verschwendung. Den Wunsch nach mehr werden Sie nicht hören. Er wäre Unrecht. Unsere Landschaft mag Sie erstaunen, aber bald vertraut sein. Bewundern Sie die Blumen am Wegrand!“ Der Zug fuhr in Windstadt ein (nagelneues Bahnhofsschild). Im Hotel, heute Abend würde ich weiter lesen.
Die Dame an der Hotelrezeption, am Kleid eine Dreisternbrosche, überreichte mir eine Notiz. Mein Gesprächspartner sei leider verhindet und müsse den Termin um einen Tag verschieben. Nun gut. Ich kannte Rechtland nicht und beschloss, den unerwartet freien Tag in der Umgebung zu verbringen. Fährt ein Bus hinaus, fragte ich. Ja, ab Busbahnhof, etwa zwanzig Minuten zu Fuß vom Hotel.
Tags darauf eine Überraschung am Fahrkartenautomat: „Bitte Fahrerlaubniskarte einstecken.“ Ich hatte keine. Ein freundlicher Herr merkte das, schaute scheu um sich und steckte rasch seine Karte ein. Dann konnte ich einen Tagesnahfahrschein lösen, für 10 Rero, die Landeswährung. Der Herr setzte sich im Bus neben mich und sagte im Umkreis hörbar: „Schauen Sie, vor einem Vierteljahr wurde die letzte Windradlücke geschlossen. Die Türme sind meist 200 Meter hoch und stehen etwa 1500 Meter voneinander, die Rotoren haben einen Durchmesser von 150 Metern. – Noch etwas Zeit? Dann genießen Sie den beliebten Hasel-Premiumpfad. Links erleben Sie unseren Haselwald, eine doppelte Strauchreihe, und rechts den Wegerichrain. Wir halten dort. In zwei Stunden fährt ein Bus zurück. Ich dankte herzlich und folgte dem Rat.
Ja, der Pfad war nett. Ein unablässig an- und abschwellendes Brausen ließ mich aber nicht zur Ruhe kommen. Zurück am Busbahnhof schlenderte ich zum Hotel. Wenige Cars surrten an mir vorbei. In einem Schaufenster sah ich Bücher, alle mit gleichem Titel: „Rechtländisch“ Im Hotelrestaurant fragte ein gut gekleideter Herr, ob an meinem Tisch noch Platz sei. Das wunderte mich, denn viele Tische waren frei. Wir kamen bald ins Gespräch. Der Herr fragte woher ich käme und was mich hierher führe. Ich erzählte von meinem freien Tag, dem netten Ausflug, dem Brausen. „Bisweilen spricht auch Jemand hier davon. In der sozialmedizinischen Klinik wird das dann behoben.“ Nach einem weiteren Glas Biosecco verabschiedete er sich lächelnd mit den Worten „Sie haben morgen einen wichtigen Termin? Dann also gute Nacht.“
Am Morgen fing mich die Empfangsdame ab. Mein Gesprächspartner habe angerufen, er sei leider noch verhindert. Er bitte um Verständnis und wolle sich demnächst bei mir melden. Leicht verärgert ging ich zum Bahnhof, meine Fahrkarte war auf diesen Tag ausgestellt. Im Zug fragte mich der Grenzberater beiläufig, ob ich meinen Reisezweck erreicht habe.
Mein Gesprächspartner meldete sich nicht mehr. Einige Zeit später erfuhr ich auf Umwegen, er habe eine neue Arbeit erhalten.
H. Nebelkrah